Sektion V: Differenz (gender, race, class, generation)

Die Entwicklungen in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur sind von den soziopolitischen Entwicklungen der letzten Dekaden kaum zu trennen. In den USA beispielsweise haben die sozialen Protestbewegungen (die Beat-Bewegung der 1950er, die Bürgerrechtsbewegung der 1960er, die Frauenbewegung der 1970er und 80er, um nur einige zu nennen) tief greifende kulturelle Umbrüche ausgelöst, die sich in literarischen Texten und poetischen Diskursen niedergeschlagen haben und sogar zum Teil von ihnen antizipiert und mitgestaltet worden sind. Die Auswirkungen der minority discourses um gender, race, class, generation daneben aber auch Differenzdiskurse um Alterskohorten und Religionszugehörigkeit, sind somit nicht nur theoretischer Natur (Stichwort: Kanondebatte), sondern die Gegenwartsliteratur selbst ist Schauplatz und Austragungsort vielfältiger gesellschaftlich-kultureller Verhandlungen. Neuen multiplen Identitätsentwürfen stehen brüchige Inszenierungen von vermeintlich einheitlichen Identitäten und abgrenzbaren Differenzen gegenüber. Literarische Entwürfe, die das kulturelle Imaginäre hinterfragen und erweitern, treten neben narratives of containment und ihre literarischen Selbstbespiegelungen. Gleichzeitig lassen literarische Texte der letzten Jahre wieder das ‘Erschreiben’ einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft erkennen, die Differenzen artikuliert und überbrückt.

Jenseits des nationalen Paradigmas stellt sich die Postmoderne als postkoloniale Ära dar: “The Empire writes back to the centre” – so hat es Salman Rushdie für die anglophone Welt formuliert. In der Tat sind die amerikanischen und die britischen Gegenwartsliteraturen Beispiele dafür, wie das thematische und ästhetische Innovationspotenzial nicht-weißer Autorinnen und Autoren das Zentrum belebt, das sich aus weißer, männlicher Perspektive lange Zeit einer Repräsentationskrise und einem Sinnverlust anheim gefallen sah. Ähnliches lässt sich auch für frankophone und deutschsprachige Literaturen konstatieren. Die Differenzdiskurse um gender, race, class, generation erhellen diesen Zusammenhang um ‘Verlust’ und ‘Gewinn’ und sind gleichzeitig als Antriebsmotor des Trends zu betrachten, der mit neo-realistischen Erzählformen die Rückkehr zu ‘kleinen Erzählungen’ eingeleitet und das postmoderne Schreiben von der Dekonstruktion zur Rekonstruktion geführt hat. Der Multikulturalismus der Gegenwartsliteratur ist an die Pluralität von Lebens- und Erzählwelten gekoppelt; dies drückt sich nicht nur in der literarischen Themenwahl (Migration, Kulturkontakt, Hybridität, etc.) aus, sondern auch in der Art und Weise ihrer Umsetzung. Autoren und Autorinnen verwenden u.a. klassische Stilmittel der Moderne verbunden mit populärkulturellen Formeln des Films und der Musik, mythische, folkloristische, orale Erzählstoffe überführt in das 20. und 21. Jahrhundert sowie neue Formen individueller und kollektiver Erzählinstanzen.

Themenkomplexe

  • Literatur und Migration (amerikanische Einwanderungsliteratur der sog. new immigrants aus Asien, Afrika, Südamerika und Osteuropa; Black British writing)
  • Gegenwartsliteratur und postkoloniale Theoriebildung (die Theorie in der Literatur, Auflösung von Genregrenzen)
  • fiktionale Vergangenheitsbewältigung (Kolonialismus, Sklaverei, Krieg)
  • Gegenwartsliteratur, Differenzdiskurse und Populärkultur
  • Literatur und Transdifferenz (Inszenierungen von Differenzvielfalt, Hierarchisierungen von Differenzen aus der Sicht der gender studies, postethnische/postfeministische Positionen)
  • deutschsprachige Minderheitenliteraturen in Osteuropa
  • literarische Repräsentationsformen, political correctness und Demokratisierung; Literatur, Religion und Ethik
  • critical whiteness studies, queer studies, ageism, regionalism und andere Erweiterungen der ‘Triade’

Ansprechpartner

  • Prof. Dr. Doris Feldmann
  • Prof. Dr. Heike Paul