Sektion I: Holocaust – Genozid
Sektion I: Holocaust – Genozid
Holocaust und Genozid gehören zu den unübersehbaren, aktuellen Themen der Gegenwartskultur. Nicht nur das Gedenkjahr 2005 “60 Jahre Kriegsende” zeigt die beklemmende Präsenz des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Kultur und Literatur der Gegenwart reflektieren die Zeit des Nationalsozialismus, besonders Holocaust und Genozid, in vielfältiger, spezifischer und bislang tatsächlich noch wenig erforschter Weise. Die internationale Dimension des Reflexionsprozesses verleiht der Aufarbeitung der NS-Zeit heute nämlich eine ganz andere Qualität und Argumentationsstruktur als der nationalen ‘Vergangenheitsbewältigung’ in den 50er und 60er Jahren. Gründe für die gegenwärtig verstärkte Thematisierung des Holocaust in der europäischen und amerikanischen Gegenwartskultur mögen die deutsche Wiedervereinigung 1989, der europäische Einigungsprozess, die allmählich einsetzende kritische Aufarbeitung der Besatzungszeit in Ländern wie Frankreich, Dänemark und den Niederlanden, die Öffnung osteuropäischer Archive, die politische Wende in Osteuropa oder auch die jüngere Auswanderungswelle osteuropäischer Juden in westeuropäische Länder sein. Für Literatur- und Kulturwissenschaftler sind sowohl der Standort der FAU Erlangen-Nürnberg als auch die deutsche Geschichte Verpflichtung genug, sich einem Thema höchster politischer und moralischer Relevanz zuzuwenden. Nürnberg, heute Stadt der Menschenrechte, früher der Reichsparteitage, der Rassengesetze und der NS-Prozesse, erscheint heute als symbolischer Ort einer aktiven Gedächtnis- und Gedenkkultur, an der auch die Universität beteiligt ist. So vergeben seit 1999 die beiden Philosophischen Fakultäten und die EWF jährlich den Lilli-Bechmann-Rahn-Preis, um an das Unrecht zu erinnern, das während der NS-Zeit im Zusammenhang mit der Aberkennung von Doktortiteln jüdischer Gelehrter geschah. Zudem hat sich die Philosophische Fakultät II immer wieder an einzelnen Aktionen (Arbeitskreis “Geschichte der Philosophischen Fakultät während des Nationalsozialismus und danach”; “Gedenkwoche zur Bücherverbrennung”) beteiligt. Eine konzertierte, fächerübergreifende und längerfristig konzipierte Kooperation im literatur- und kulturwissenschaftlichen Bereich fehlt allerdings bislang. Der Themenschwerpunkt “Holocaust – Genozid” soll mit besonderer Bezugnahme auf die menschenverachtenden politischen Geschehnisse während der Zeit des Nationalsozialismus der literarischen und kulturellen Adaptation dieses Themas nachgehen. Der Diskussion durch deutschsprachige, anglophone, frankophone, aber auch osteuropäische sowie asiatische Literatur soll breiter Raum gewährt werden. Der Themenschwerpunkt berührt zahlreiche Forschungsfelder der traditionellen Literatur-, aber auch der neueren Kulturwissenschaft:
Themenkomplexe
- Ästhetik des Bösen
- Literatur und Theodizee
- Tragik und Tragikomisches als Verarbeitungstechnik des Grauens, Funktion des Grotesken, Satire, Literarisierung als Banalisierung historischer Ereignisse
- Fiktion und Wahrheit: Biographie, Autobiographie und Fiktionale Biographie, Realismusdebatte
- Gattungspropädeutische Fragen (Thema des Holocaust in Lyrik, Drama und Roman)
- Imagologie (Auto- und Heteroimagines sowie nationale Stereotypen)
- Gedächtnisforschung und kollektive Erinnerung, Literarische Anthropologie
- Kulturelle Verarbeitung jüngerer Erscheinungsformen von Völkervernichtung (Afrika, Balkan)
Aktuelle Projekte
In ihrem „den deutschen Freunden“ gewidmeten Roman weiter leben schreibt Ruth Klüger: „Über die Geschichte der sogenannten ‚jüngsten Vergangenheit’ […] ist so viel geforscht und geschrieben worden, daß wir sie langsam zu kennen meinen, während die Geschichte der Vergangenheitsbewältigung noch aussteht.“ Das Desiderat, das Klüger 1992 noch beklagt – und dem sie selbst in ihrem Roman, Maßstäbe setzend, begegnet – läßt sich in den Werken der Gegenwartsliteratur so nicht mehr auffinden. Die Autorinnen und Autoren, die seit den 90er Jahren die Shoah zu ihrem Thema wählen, schreiben nicht nur über ein geschichtliches Ereignis, das es zu erinnern gilt. In der Regel reflektieren sie zugleich die persönlichen und gesellschaftspolitischen Funktionen und Funktionalisierungen des Umgangs mit der Shoah. Sie verstehen ihre Werke dabei als Gegenentwürfe zu einem sprachlichen oder auch bildkünstlerischen Pathos des Gedenkens, dem sie mit Beredtheit und Bilderreichtum, mit Polemik, Komik und anderen, vielfältigen Formen des Tabubruchs entgegen arbeiten. Ausgehend von Klügers Überlegungen widmet sich die Sektion Holocaust und Genozid zunächst der Frage nach den spezifischen Formen von Darstellungen der Shoah in der Kunst sowie in der deutsch- und fremdsprachigen Literatur der Gegenwart. Diese Fragen sind in ihren wichtigsten Teilaspekten – wie etwa dem der Komik –, bereits vergleichsweise gut erforscht bzw. sind durchaus im Blickfeld der aktuellen Shoahforschung. Längerfristiges Ziel der Arbeit der Sektion ist es daher, diese Teilaspekte in einer übergreifenden Fragestellung zusammenzuführen und voran zu treiben. In kritischer Reflexion – nicht zuletzt der Benennung der eigenen Sektion, die sich künstlerischen Darstellungen von Holocaust und Genozid widmet – fragt sie nach den Folgen, die der neue Shoahdiskurs für das Problem der ‚Vergleichbarkeit’ aufwirft. Genauer: Die Sektion stellt die Frage, auf welche Weise sich das von Anfang an zentrale Problem der Vergleichbarkeit in den künstlerischen und gesellschaftspolitischen Diskursen seit 1945 bis in die Gegenwart verschiebt. Eine internationale Tagung im Winter 2007/08 verfolgt diese Fragestellung aus zwei unterschiedlichen, einander ergänzenden Perspektiven. Sie untersucht zum einen die Verschiebungen, die sich zwischen den Werken der ersten Generation zu denen der zweiten und dritten Generation beobachten lassen. Zum zweiten analysiert sie die unterschiedlichen Konnotierungen und Kontextualisierungen, in denen die Rede von der (Un)Vergleichbarkeit der Shoah in der Kunst und Literatur der Gegenwart steht.
Ansprechpartner
- Prof. Dr. Rudolf Freiburg
- Prof. Dr. Dirk Niefanger
- PD Dr. Bettina Bannasch