Sektion IV: Wendephänomene (1989; Jahrtausendwende; Osteuropa)

Der Begriff Wende stellt ein in letzter Zeit häufig genutztes Muster zur Beschreibung historischer Veränderungen bereit. In der deutschen Nachkriegsgeschichte bezeichnet er mehrere Prozesse, die sich zwischen der Trennung und der Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten ereignet haben. Sie werden mit Schlagworten wie der Stunde Null, der konservativen Wende, der 89er Wende erfasst. Diese spezifisch deutschen Phänomene sind eingelagert in größere historische Veränderun­gen, die mit demselben Begriff beschrieben werden: etwa die Folge von ‘Wenden’ in den ost­europäischen Staaten von Polen bis zur Ukraine oder die Hinwendung zu einem Europa der Nationen. Das Beschreibungs-Modell, das mit dem Begriff Wende aufgerufen und benutzt wird, soll auf der Grundlage von vergleichenden Studien theoretisch genauer erfasst und historisch kontextualisiert werden. Offensichtlich geht mit den politischen Veränderungen auch eine im engeren Sinne kulturelle Umorientierung vor sich. Das zentrale Phänomen nimmt sich dabei auf den ersten Blick paradox aus: Während sich das gesellschaftliche Interesse am Zukünftigen ausrichtet, tritt im kulturellen Bereich nun deutlich stärker die Vergangenheit in den Vordergrund (’Aufarbeitung’). Bedeutet das, dass die Utopien aus dem literarischen in das politische Feld ausgewandert sind? Und korrespondiert dies den gesamtgesellschaftlichen Stagnationsphänomenen, wie sie etwa in Frankreich und Deutschland zu beobachten sind, und der ökologisch wie sozial rücksichtslosen Marktwirtschaft, wie sie sich in Osteuropa gegenwärtig etabliert?

Aus den konkreten Studien heraus sollen Ansätze erarbeitet werden, die es gestatten, den Zu­sammenhang zwischen politischer, ideengeschichtlicher und literarischer Tradierung, der im Falle der Wende zum Vorschein kommt, allgemeiner zu fassen. Welche theoretischen Konzepte sind geeignet, die komplexen Vorgänge im kulturellen Feld zu beschreiben? Werden in Wendezeiten verstärkt Traditions- und Wertungsmuster gestiftet?

Themenkomplexe

  • Trennung und Wiedervereinigung: Anfang und Ende welcher Geschichte?
  • Kulturelle Symbole und literaturhistorische Phantasien: Stunde Null und die Wende.
  • Gescheiterte Wende-Versuche: Tauwetterperiode, Bitterfelder Weg.
  • Wie verhält sich akademische Geschichtsschreibung zu literarischer Verarbeitung zu populärer Dokumentation?
  • Deutschlandbilder im Wandel (Selbst- und Fremdwahrnehmung).
  • Der zunehmende Einfluss osteuropäischer Literaturen auf die deutsche (Übersetzungen, Vorbilder, Bezugnahmen).

Ansprechpartner

  • Prof. Dr. Dirk Niefanger

PD Dr. Holger Helbig